Nutzen und Grenzen der FTO-Analyse
Dr. Lars Zanzig
Serviva GmbH
Dr. Jens Bethge
Vossius & Partner
Nachhaltig erfolgreiche Unternehmen achten – neben dem Schutz des eigenen geistigen Eigentums – darauf, dass sie nach Möglichkeit keine Schutzrechte Dritter verletzen. Daher besteht eine wichtige Aufgabe von Patentabteilungen oder -verantwortlichen insbesondere vor der Markteinführung neuer Produkte darin, die Ausübungsfreiheit (engl. „Freedom to operate“ oder kurz „FTO“) zu prüfen. Damit soll sichergestellt werden, dass das Unternehmen nicht von Wettbewerbern aufgrund eines Schutzrechtes an der Markteinführung gehindert oder aufgrund einer Patentverletzung verklagt wird. Zu diesem Zweck wird – gegebenenfalls mit Unterstützung externer Experten – eine FTO-Analyse durchgeführt.
In einem ersten Schritt ist zu prüfen, welche Eigenschaften eines Produktes oder Verfahrens so neu sind, dass eventuell dafür bereits anderweitig Schutzrechte angemeldet sein könnten. Das kann in Einzelfällen das gesamte Produkt sein. Bei Weiterentwicklungen sind es häufig einzelne technische Details, aus denen Merkmale für eine Recherche abgeleitet werden können. An dieser Stelle ist auch zu prüfen ob für die identifizierten Eigenschaften eigene Schutzrechte, z.B. ein Patent, angemeldet werden kann. Neben den technischen Merkmalen können auch nicht technische Merkmale, wie die Ausgestaltung und das Design, unter Schutz stehen bzw. unter Schutz gestellt werden.
Grundsätzlich gilt dabei: je konkreter eine Beschreibung der zu untersuchenden (technischen) Eigenschaften des Produkts vorliegt, desto belastbarer ist am Ende das Ergebnis der FTO-Analyse.
Darüber hinaus sollte frühzeitig entschieden werden, auf welchen Märkten das Produkt angeboten werden soll. Da gewerbliche Schutzrechte nur eine nationale oder regionale Wirkung entfalten, brauchen beispielsweise keine asiatischen oder amerikanischen Schutzrechte beachtet zu werden, wenn von vornhinein feststeht, dass die Produktion und Vermarktung auf Europa beschränkt sein wird. Auf diese Weise lassen sich gegebenenfalls Aufwand und Kosten für eine FTO-Analyse deutlich reduzieren.
Hier ist auch anzumerken, dass eine eigene Patentanmeldung, eine positive Stellungnahme zur Recherche bzw. Prüfungsbescheid des Patentamts oder gar ein erteiltes eigenes Patent eine FTO-Analyse nicht ersetzten kann. Denn die Ausübung eines eigenen Patents kann auch die Rechte Dritter verletzen. Mit anderen Worten, eine FTO-Analyse ist unabhängig von eigenen Schutzrechten notwendig. Jedoch können oft synergistische Effekte zwischen FTO-Analyse und der Ausarbeitung von Patentanmeldungen genutzt werden.
Bekanntlich ist die Entwicklung eines neuen Produktes ein Prozess, der mehrere Monate oder sogar Jahre dauern kann. Auf diesem – häufig nicht geradlinig verlaufenden – Weg reift eine Produktidee über verschiedene mögliche Ausführungsformen zu einem (oder mehreren) Funktionsmuster(n), einem Prototyp bis hin zu dem serienreifen Produkt. Während dieses Entwicklungsprozesses werden ursprüngliche Ausführungsformen verworfen und häufig neue Eigenschaften hinzugefügt. Deshalb stellt sich die berechtigte Frage, zu welchem Zeitpunkt eine FTO-Analyse am besten durchgeführt werden sollte. Die gleichen Überlegungen lassen sich auf eine Patentanmeldung übertragen, denn der Schutzbereich sollte am Ende das serienreife Produkt schützen.
Wenn die FTO-Analyse zu früh angesetzt wird, dann steht vielleicht noch gar nicht das technische Konzept endgültig fest und die Analyse wird für die „falschen“ Merkmale ausgelegt. Wird die FTO-Analyse hingegen erst kurz vor der Markteinführung terminiert, dann lassen sich zwar die Merkmale für eine entsprechende Recherche optimal herausarbeiten. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass die FTO-Recherche ein eindeutig negatives Ergebnis zu Tage fördert. Das bedeutet, dass das entwickelte Produkt Patentansprüche Dritter verletzen würde und schlimmstenfalls die gesamte Entwicklungsarbeit vergeblich war.
Als praktikabler Ausweg aus dem Dilemma bietet es sich an, zu Beginn der Entwicklungsarbeit mit einer relativ breit angelegten Übersichtsrecherche einen ersten Überblick über relevante Schutzrechte zu gewinnen und zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Entwicklung schon weit fortgeschritten ist, eine speziell ausgelegte FTO-Recherche durchzuführen.
Ein Patentanwalt kann die relevanten Schutzrechte bewerten und ggf. Auskunft über den jeweiligen Schutzbereich und eine mögliche Verletzung durch das geplante Produkt geben. Außerdem kann basierend auf einer Auswertung der Übersichtsrecherche, eine geeignete Strategie für die Anmeldung eigener Schutzreche entwickelt werden.
Auch wenn heute alle großen Patentämter einen freien Online-Zugang zu den jeweiligen Patentdatenbanken bereitstellen, sollte eine Recherche nach Schutzrechten, insbesondere nach technischen Schutzrechten, von Experten mit Unterstützung geeigneter Softwaretools und unter Verwendung professioneller Datenbanken durchgeführt werden. Im Vergleich zu einer händischen Suche über Suchportale oder Datenbankabfragen beim Patentamt ist eine Expertensuche gründlicher, präziser und effizienter.
FTO-Recherchen stellen stets eine schwierige Gratwanderung für den Rechercheur dar. Einerseits soll die Vollständigkeit gewährleistet sein, damit keine relevanten Dokumente übersehen werden. Andererseits muss auch die Anzahl der Dokumente, die einer Fein-Analyse unterzogen werden, begrenzt werden. Hierfür ist viel Erfahrung notwendig. Etablierte Recherche-Dienstleister wie die Serviva GmbH bearbeiten beispielsweise weit über 100 FTO-Recherchen pro Jahr.
Nach der Identifizierung einer geeigneten Grundmenge von Schutzrechten mit Hilfe eines geeigneten Suchprofils vergleicht der Rechercheur in einer Feinanalyse die Ansprüche der Patente oder Patentanmeldungen mit den zu untersuchenden Merkmalen, um eine erste Relevanzeinschätzung abzugeben. Letztendlich bestimmt die Anzahl der durchzusehenden Dokumente den Aufwand der Analyse.
Vordergründig interessieren bei einer FTO-Analyse nur „lebende“ Schutzrechte, also erteilte Patente, die in den für das Produkt relevanten Ländern in Kraft sind oder anhängige Patentanmeldungen, für die eine Entscheidung über die Erteilung noch aussteht. Nur diese Schutzrechte stellen ein potenzielles Risiko hinsichtlich der Ausübungsfreiheit dar. Allerdings ist es häufig auch sinnvoll, bereits abgelaufene Patente in die Recherche mit einzubeziehen. Zeigt sich, dass solche Schutzrechte als sog. „freier Stand der Technik“ die Recherchemerkmale zutreffend beschreiben, so können diese Dokumente eventuell im Rahmen von Einspruchsverfahren für die Neutralisierung „störender“ Schutzrechte verwendet werden.
Die Auswertung einer FTO-Recherche und die Abschätzung der mit den als relevant eingestuften Schutzrechte erfordert ein hohes Maß an Erfahrung und Sachkenntnis. Während in den Patentabteilungen größerer Unternehmen hierfür Spezialisten tätig sind, die in Zusammenarbeit mit den technischen Experten eine solche Risikoeinstufung vornehmen, sollte ansonsten die Beratung durch einen fachkundigen Patentanwalt hinzugezogen werden.
Wenn im Rahmen einer FTO-Analyse ein potenzielles Risiko, d.h. ein oder mehrere ‚störende(s)‘ Schutzrecht(e), identifiziert wird, gibt es verschiedene Handlungsoptionen. Wenn das Patent bereits erteilt ist, kann versucht werden eine Umgehungslösung zu entwickeln oder die Patentfähigkeit des ‚störenden‘ Schutzrechtes in Frage zu stellen (Stichwort: Einspruchs- oder Nichtigkeitsklage). Alternativ oder ergänzend gibt es die Möglichkeit, mit dem Patentinhaber Verhandlungen zur (Kreuz-)Lizenzierung aufzunehmen. Für diese Verhandlungen ist ein starkes und zielgerichtetes eigenes Schutzrechtsportfolio von Vorteil.
Sofern das ‚störende‘ Schutzrecht noch nicht erteilt worden ist, sollte es in eine Patentüberwachung aufgenommen werden, damit rechtzeitig auf eine Rechtsstandsänderung reagiert werden kann. Hier kann zunächst abgewartet werden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Patent zu einem späteren Zeitpunkt vom zuständigen Patentamt überhaupt erteilt wird.
Mit einer professionellen FTO-Analyse lässt sich zwar ein hohes Maß, aber keine 100%ige Sicherheit gewinnen. Dies hat mehrere Gründe:
Zunächst existiert stets ein „blinder Fleck“ von Schutzrechten, die bereits angemeldet aber noch nicht veröffentlicht worden sind. Das bedeutet, dass man sich nicht ganz sicher sein kann, ob nicht in den vergangenen 18 Monaten vor dem Recherchedatum ein Schutzrecht angemeldet worden ist, das später zu Schwierigkeiten führen kann. Zur Lösung dieses Problems empfiehlt sich ein Update der FTO-Recherche nach etwa 18 Monaten, um solche Anmeldungen sicher finden zu können.
Gerade bei komplexen Technologien und Produkten mit einer Vielzahl von Merkmalen ist es unter Berücksichtigung eines vernünftigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses nicht immer möglich, sämtliche in Frage kommenden Schutzrechte vollständig zu prüfen. Hier muss ein Weg gefunden werden, um mit einem vertretbaren Aufwand ein Optimum an Sicherheit zu erzeugen.
Bei als ‚relevant‘ eingestuften Schutzrechten ist es häufig nicht einfach zu entscheiden, ob das eigene Produkt oder Verfahren möglicherweise unter den Patentschutz fällt oder nicht. Die Interpretation einzelner Patentansprüche und insbesondere die Äquivalenzrechtsprechung bei leichten Abwandlungen bieten Raum für unterschiedliche Auslegungen, so dass das Ergebnis von FTO-Analysen nicht in einer reinen ‚Schwarz-Weiß-Denkweise‘ zu betrachten ist, sondern auch die ‚Grautöne‘ mitberücksichtigt werden müssen. Während bei großen Unternehmen das Ergebnis von FTO-Analysen in klare Prozesse eingebunden ist und im Risikomanagement Berücksichtigung findet, ist es für kleinere Unternehmen ratsam sich dafür die Unterstützung eines Patentanwalts zu versichern.
Mitunter unterscheiden sich die Auslegungen und damit der Schutzumfang eines im Wortlaut gleichen Schutzrecht von Land zu Land, weshalb in besonderen Fällen auch ein Hinzuziehen weiter nationaler Experten nötig sein kann, wobei ein Patentanwalt in der Regel über ein weltweites Netzwerk solcher Experten verfügt.
FTO-Analysen sind für innovative Unternehmen ein unverzichtbarer Bestandteil der Entwicklungsarbeit, um das Risiko von kostspieligen Patentverletzungsklagen durch Dritte zu minimieren. Sie erfordern bereits bei der Informationsaufbereitung vorab viel Sorgfalt und bei der anschließenden Patentrecherche ein hohes Maß an Erfahrung, um einen effizienten Weg zu finden, die Ansprüche an die Vollständigkeit der Dokumente zu erfüllen. Dabei sind bisweilen Kompromisse notwendig, um ein vernünftiges Verhältnis von Aufwand und Nutzen zu wahren. Oft lassen sich die Recherchen für eigene Patentanmeldungen mit einer FTO-Recherche kombinieren.
Die Analyse und Bewertung einer FTO-Recherche ist die Aufgabe von Patentanwälten. Das Ergebnis kann direkte Auswirkungen auf die weitere Entwicklungsarbeit und die Ausgestaltung von Produkten oder eine vertiefte Auseinandersetzung der als relevant eingestuften Patentdokumente zur Folge haben. So kann beispielsweise die Rechtsbeständigkeit von störenden Patentansprüchen geprüft werden und entsprechende Verfahren eingeleitet werden.
Die überlegte Festlegung der Recherchemerkmale und des Recherchezeitpunkts sind entscheidend für das Gelingen einer FTO-Recherche, damit Sie oder Ihr Unternehmen ihre Ideen und Produkte erfolgreich im Markt umsetzen können.